
Berlin, 13. Februar 2025 – Selbsthilfegruppen können für Menschen mit Seltenen Erkrankungen eine wichtige Stütze bei der Krankheitsbewältigung bilden und die ärztliche Versorgung sinnvoll ergänzen. Lesen Sie auf dieser Seite, wie die Leistungen der Selbsthilfe die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten unterstützt.
Was leistet Selbsthilfe für Menschen mit Seltenen Erkrankungen?
Selbsthilfevereinigungen und -organisationen bieten als vierte Säule des Gesundheitswesens vielen Erkrankten eine wichtige Stütze. Im Bereich der Seltenen Erkrankungen (SE) kann die Selbsthilfe einen besonders hohen Stellenwert einnehmen.
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Aufbrechen der krankheitsbedingten Isolation
Menschen mit SE müssen in vielen Lebensbereichen lernen, mit ihrer Besonderheit umzugehen. Dadurch kann ein Gefühl der Isolation entstehen. Außenstehende verstehen häufig nicht, was Betroffene und ihre Angehörigen durchmachen. Durch den Austausch mit anderen Erkrankten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann ein Gefühl der Zugehörigkeit entstehen, das die Isolation aufbricht. In der Selbsthilfegruppe finden Menschen mit SE Verständnis für ihre Probleme, Trost und Mut. Die Gruppe bietet einen sicheren Ort, an dem Erkrankte über Gefühle, Sorgen oder Ängste sprechen und Bewältigungsstrategien erlernen können. Auch Eltern von Kindern mit Seltenen Erkrankungen finden hier Zuspruch und Unterstützung.
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Wissensvermittlung und Aufklärungsarbeit
Der Beitrag der Selbsthilfe für SE geht weit über den Austausch und die gegenseitige Unterstützung hinaus. Durch das Zusammentragen und die Weitergabe von gesammelten Erkenntnissen stellt die Selbsthilfe für Menschen mit SE in vielen Fällen eine wichtige Informationsquelle dar. Oft übernimmt die Selbsthilfe auch die öffentliche Aufklärungsarbeit zu SE. Dies erreicht die Selbsthilfe der SE durch eine starke Vernetzung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.
In einer Erhebung von 2016 gaben fast 70 Prozent der Befragten mit SE an, dass sie die Selbsthilfegruppe als Informationsquelle über ihre Erkrankung und die medizinische Versorgung nutzen. Andere Informationsquellen hingegen, wie beispielsweise Orphanet oder den SE-ATLAS, kannten nur 13,5 Prozent bzw. 4,3 Prozent.
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Empowerment
Der wechselseitige Austausch von hilfreichen Informationen und Erfahrungswissen im Umgang mit der Erkrankung oder Problematik tragen zum Empowerment (also der Befähigung und Ermutigung der Betroffenen zu Selbstverantwortung und Selbstbestimmung) bei und bieten einen Raum, der Verständnis, Trost und Mut gibt. Mit Unterstützung im Hintergrund schaffen es Betroffene eher, für ihre Interessen einzustehen. Manchen hilft die Gemeinschaft zudem, die Angst vor Stigmatisierung (am Arbeitsplatz) zu überwinden. Ist die fragliche SE gegebenenfalls mit einem Tabu behaftet, dann kann die Selbsthilfegruppe die Chance bieten, sich im sicheren Rahmen über intime Fragen zum speziellen Krankheitsbild auszutauschen und eventuelle Befangenheiten aufzulösen.
Welchen Nutzen sehen Menschen mit SE in Selbsthilfegruppen?
In einem Review von 2017 beschreiben Menschen mit SE folgende Vorteile von Selbsthilfegruppen:
- Andere Betroffene kennenlernen und Freundschaften bilden mit Menschen, die an derselben SE leiden und ähnliche Erfahrungen gemacht haben
- Informationen über ihre Krankheiten und mögliche Behandlungen erhalten
- Emotionale Unterstützung geben und empfangen
- An einem sicheren Ort offen über SE und Gefühle sprechen
- Bewältigungsstrategien lernen
- Einen Sinn für Eigenverantwortlichkeit, Kompetenz und Hoffnung entwickeln
- Sich für eine bessere Gesundheitsversorgung für andere Betroffene mit SE einsetzen
Seltene Erkrankungen: Wie kann mich eine Selbsthilfegruppe unterstützen?
Wer eine Seltene Erkrankung hat, kann sich mitunter im Stich gelassen fühlen: Das Versorgungssystem ist kompliziert, es gibt wenige verlässliche Informationen und wenige Erfahrungswerte im alltäglichen Umgang mit der Erkrankung. Deshalb schließen sich Menschen mit Seltenen Erkrankungen häufig in Selbsthilfegruppen zusammen. Dieser Austausch kann helfen, sich gegenseitig zu unterstützen, zu vernetzen, sich Trost und Hoffnung zu spenden oder gemeinsam etwas zu unternehmen.
Selbsthilfeorganisationen setzen sich auch für eine bessere Versorgung, mehr Unterstützungsangebote und eine stärkere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ein. Dafür haben sich in Deutschland über 100 Selbsthilfegruppen zur Allianz Chronischer Seltenen Erkrankungen, ACHSE, zusammengeschlossen.
Weil oft nur wenige Menschen von einer bestimmten Seltenen Erkrankung betroffen sind, gibt es entsprechende Selbsthilfegruppen nicht immer direkt vor Ort. Meistens sind sie überregional oder bundesweit organisiert.
Wie sie eine passende Selbsthilfegruppe finden, erfahren Sie auf dem Zentralen Informationsportal über Seltene Erkrankungen.
Wissen ist gesund.
Wie kann Selbsthilfe die Patientenbetreuung ergänzen?
Der Besuch einer Selbsthilfegruppe kann Ärzte und Ärztinnen in der Versorgung von Menschen mit SE unterstützen.
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Verbesserung der Laienkompetenz
So zeigt sich, dass Menschen mit SE, die aktiv gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen besuchen, einen höheren Wissensstand zu ihrer jeweiligen Erkrankung haben. Einen positiven Trend erkennt man auch beim Kenntnisstand über Patientenrechte, Sozialrecht und Leitlinien, wenn Betroffene sich in Selbsthilfegruppen austauschen. Zudem werden aktuelle Informationen über Medikamente, Forschung, Heil- und Hilfsmittelversorgung zur Verfügung gestellt. Diese Informationen sind oft umfassender als jene, die dem Arzt oder anderen Gesundheitsprofessionellen oder -beratenden zur Verfügung stehen, weshalb gern auf Informationsangebote der Selbsthilfe verwiesen wird Häufig werden die Mitglieder von gesundheitsbezogenen Selbsthilfegruppen zu Experten in eigener Sache. Gemeinsam verfügen sie über ein hohes Maß an sog. Laienkompetenz auf dem Gebiet der jeweiligen Erkrankung und ihrer Begleitumstände.
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Verbesserte Kommunikation und Adhärenz
Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient kann von einem besseren Krankheitsverständnis profitieren, weil Patienten dadurch eher in der Lage sind, gezielt Fragen zu stellen und ärztliche Anweisungen und Therapiepläne einzuhalten. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen kann damit unterstützend auf die Therapieadhärenz wirken: Patienten verstehen besser, warum bestimmte Maßnahmen wichtig sind, und werden ermutigt, langfristig bei der Therapie zu bleiben.
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Emotionale Unterstützung
Die Selbsthilfe kann den Arzt, die Ärztin weiterhin dabei unterstützen, die Patienten emotional aufzufangen und ihr zu helfen, einen guten Umgang mit der Erkrankung zu finden. Wo Ärzte sich nur im begrenzten Umfang um emotionale Aspekte kümmern können, da entlastet die Selbsthilfe: Selbsthilfegruppen fangen ihre Mitglieder auf, begleiten sie und weisen ihnen Wege im Umgang mit ihrer Erkrankung.
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Austausch von Erfahrungswissen
Die Selbsthilfe kann die medizinische Betreuung und professionelle Beratung durch authentisches Erfahrungswissen ergänzen. Im Austausch mit anderen Mitgliedern der Selbsthilfegruppe, die auf ähnliche oder gleiche Herausforderungen stoßen, fühlen sich Betroffene oft besser verstanden und angenommen.
Wie kann meine ärztliche Tätigkeit vom Austausch mit einer Selbsthilfegruppe profitieren?
Selbsthilfegruppen entlasten die ärztliche Tätigkeit, indem sie alltagsbezogene Fragen und Bedürfnisse von Menschen mit SE beantworten und emotional auffangen. So bleibt in der ärztlichen Sprechstunde mehr Zeit für die medizinische Betreuung.
Viele Selbsthilfegruppen aus dem Gesundheitsbereich kooperieren direkt mit Ärzten und Ärztinnen und laden sie z. B. zum Informationsaustausch in Gruppensitzungen ein. Die Selbsthilfegruppen gewinnen dadurch einen Ansprechpartner für medizinische Fragen. Ärztinnen und Ärzte können im Gegenzug durch den Austausch mit einer Selbsthilfegruppe wichtige Informationen zu alltagsrelevanten Einschränkungen, dem Krankheitsverlauf und individuellen Coping-Strategien der Patientinnen und Patienten erhalten. Viele Selbsthilfegruppen sammeln aktuelle und umfassende Informationen zur jeweiligen Erkrankung und stellen sie (allen Interessierten) zur Verfügung. Diese Informationen können auch von Ärzten und Ärztinnen genutzt werden, um sich gezielt über neue Erkenntnisse zur jeweiligen Erkrankung zu informieren und diese in das eigene therapeutische Handeln einfließen zu lassen oder um sie an ihre Patienten weiterzugeben. Für Ärzte und Ärztinnen entfallen damit aufwendige Recherchen. Die Gewichtung der Informationen durch die Selbsthilfegruppe vermittelt außerdem ein gutes Bild davon, welche Aspekte der SE für Patienten im Alltag die größte Relevanz haben.
Durch den Austausch mit einer Selbsthilfegruppe erlangen Ärzte einen Einblick in die Lebenswelt von Betroffenen mit ihren Alltagsproblemen und Bewältigungsstrategien. Dies kann das Verständnis für die Sorgen, Ängste und Bedürfnisse von Patienten positiv beeinflussen. Ärzte sind so zum Beispiel leichter in der Lage einzuordnen, welche Krankheitsaspekte für die Patienten besonders zentral sind, sodass sie in der Sprechstunde gezielt danach fragen können. Zudem können Ärzte in Selbsthilfegruppen auch authentische Rückmeldungen zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen erhalten, um Aufschluss über die Akzeptanz von Therapien zu gewinnen.
Durch die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen erweitern Ärzte und Ärztinnen zudem ihr Netzwerk und lernen von anderen Experten, die mit bestimmten Krankheitsbildern vertraut sind. Dies mag vor allem bei seltenen oder auch komplexen Erkrankungen eine Hilfestellung bieten.
Diese Information wurde erstellt von: Anne Engler, Johanna Lindner, Jochen Randig, Lisa-Marie Ströhlein (alle Stiftung Gesundheitswissen).
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Quellen
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Aktualität der Informationen
Dieser Text wurde ursprünglich am 13. Februar 2025 erstellt und wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Nächste geplante Aktualisierung: Februar 2030.
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Interessenkonflikte
Bei der Erstellung dieser Gesundheitsinformationen lagen keine Interessenkonflikte vor.